Der Berliner Umweltanwalt Reiner Geulen ist der Primus seiner Zunft.

aus: Spiegel Special 2/1995

Der Besucher in der Bibliothek des rheinland-pfälzischen Klosters Maria Laach wühlte sich durch vergilbte Chroniken und spätmittelalterliche Folianten. Die Suche diente der Wahrheitsfindung vor Gericht.

In den alten Pergamenten fahndete der Berliner Umweltanwalt Reiner Geulen, 51, nach Hinweisen zu den „Risiken des sogenannten Eifel-Vulkanismus“ und wurde fündig: Die Gegend gilt als erdbebengefährdetes Gebiet; die Mönche hatten, wie Geulen richtig vermutet hatte, jeden Erdstoß gewissenhart dokumentiert. Der Chronistenfleiß hat Auswirkungen auf ein Verfahren mit Milliarden-Streitwert: In Vertretung der Stadt Neuwied geht Geulen gerichtlich gegen das seit 1988 stillgelegte Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich vor. Vor allem seine Beben-Nachweise gaben den Ausschlag dafür, daß die Atomanlage im Rheinbecken noch immer nicht ans Netz darf.

Solches Procedere ist Juristen typisch. Mit profunder Kenntnis auch der Fußangeln des einschlägigen Rechtsinstrumentariums, mit Pfiff, Beharrungsvermögen und Kreativität hat er eine bundesweit einmalige Umwelt-Prozeßstrecke bewältigt. Stichworte: Gorleben, Buschhaus, Batteriefabrik Sonnenschein, Plutoniumfabrik Hanau, Bombenabwurfplatz Wittstock. Selbst wo Geulen nicht obsiegte, hatte er zumeist in der Sache Erfolg. Scharfe Umweltauflagen, etwa bei der Bleistaub-Klage um die inzwischen stillgelegte Berliner Akku-Fabrik Sonnenschein, früher im Besitz der Familie des Ex-Postministers Christian Schwarz-Schilling, oder im Fall des niedersächsischen Braunkohlekraftwerks Buschhaus, waren den Richtern die Klageabweisungen allemal wert.

Der „allseits gefürchtete Umwelt-Anwalt“ (Süddeutsche Zeitung), unangefochten Primus seiner Zunft, tritt vor Gericht eher jugendlich im Habitus auf. Nie laut, mit höflicher Diktion, richtet er sich auf der Klägerbank ein. Auf der Beklagtenseite formieren sich bis zu fünf Reihen Amtsjuristen oder eine ganze Anwaltsarmada aus renommierten Kanzleien.

Das Bild hält sich seit Jahren, nur Geulens Mandantschaft hat gewechselt. Während früher vor allem Bürgerinitiativen klagten, dominieren heute rote und rot-grüne Kommunen oder Landesregierungen, die sich langwierige Prozeßserien noch leisten können.

Über 20 Mandanten, vom Landkreis bis zur Kirchengemeinde beispielsweise, berät oder vertritt Geulen, so im Komplex um den 142 Quadratkilometer großen brandenburgischen Bombenabwurfplatz Wittstock. Im Fall der auch dank Geulen-Gutachten und diverser Öko-Initiativen seit 1991 in den entscheidenden Teilen stillgelegten Plutoniumfabrik Hanau war der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer Geulens Klient.

Wo andere längst das rechtspolitische Instrumentarium erschöpft sehen, gibt Geulen – dessen Sozius jahrelang der frühere Grünen- und heutige SPD-Politiker Otto Schily war – ungern auf. Im Gorleben-Komplex, seit 1978 einer seiner prozessualen Dauerbrenner, hofft er gar, das gesamte atomrechtliche Fundament der Kernenergie-Nutzung ins Wanken zu bringen.

Zwar nahm 1980 das zur Errichtung des Atommüll-Komplexes geschaffene Bundesberggesetz dem örtlichen Großgrundeigentümer Andreas Graf von Bernstorff die Bergrechte an den Salzstöcken, die für das Endlager für abgebrannte Brennelemente vorgesehen sind. Für den Grafen unterlief Geulen das Vorhaben jedoch mit einem Schachzug besonderer Art: Er ließ aufgrund des „Bestandsschutzes“ kurzerhand die seit Jahrhunderten den Bernstorffs zustehenden Salzrechte, sogenannte Salzgerechtigkeiten, im Grundbuch sichern.

Die Folge: Zwei Jahre nach dem vorgesehenen Betrieb ist dank unzähliger Widersprüche nicht einmal ein Sechstel des Endlagers fertig. Die Bundesregierung kann zwecks „Erkundung“ zwar die Schächte abteufen, darf aber weder den Salzstock aushöhlen noch das Endlager bauen. Auch die finanziellen Dimensionen sind beachtlich.

Im Fall des Reaktors Mülheim-Kärlich listen die Betreiber einen Tagesschaden von einer Million Mark auf. Über hundert Gutachten wurden inzwischen zu dem deplazierten Klotz erstellt. Zuletzt im März 1993 stufte das Bundesverwaltungsgericht die Warnungen vor dem Eifel-Vulkanismus als „substantiiert“ ein.

Das Urteil erging wie immer im Namen des Volkes. Geulen, der die Begutachtungsflut mit seiner detektivischen Suche in der Abtei zu Maria Laach ausgelöst hatte, blieb bescheidener. Er nannte seine Klosteraktion nach literarischer Vorlage „Im Namen der Rose“.

Wolfgang Bayer
170 SPIEGEL special 2/1995